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XPLR Magazin 02/2021

HERO STORY

HERO STORY Verlagsmenschen sind Überzeugungstäter:innen. In München gibt es davon besonders viele: Mit über 140 Verlagen, die jährlich mehr als 8.000 neue Bücher produzieren und dabei rund 1,2 Milliarden Euro Umsatz erzielen, gehört die bayerische Landeshauptstadt zu den größten Verlagsstädten der Welt. Verlagshäuser wie C. H. Beck, Piper, Hanser oder Random House sind hier angesiedelt. In der Branche geht es kollegial zu, das große Geld lockt bei unzähligen zu prüfenden Manuskriptseiten nicht: Für die Arbeit lesen Lektor:innen häufig in ihrer Freizeit, Durchschnittsgehälter schneiden im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen deutlich schlechter ab. Eine Prise Idealismus braucht es also, um Verleger:in zu werden. Und eine klare Vision dazu. Lydia Hilebrand (links) und Elena Straßl (oben) betreuen Presse und Podcast sowie Veranstaltungen und Vertrieb bei &Töchter. VERLAG MAL ANDERS Abgeschreckt hat das die fünf Freundinnen Laura Nerbel, Lydia Hilebrand, Jessica Taso, Sarah Zechel und Elena Straßl nicht. Seit 2019 hat München einen unabhängigen Verlag mehr. Mit &Töchter verwirklichten die Buchwissenschaftlerinnen ihren Studientraum: „Wir haben uns zuallererst aus Liebe zu den Büchern als Buchverlag gegründet, weil wir gerne Bücher produzieren und verkaufen wollten. Wir wussten aber von Anfang an: Ein ganz klassischer Buchverlag passt nicht zu uns. Es muss digitaler sein“, sagt Elena Straßl, die sich um Veranstaltungen und Vertrieb bei &Töchter kümmert. Digitale Konzepte, innovative Vermarktungsansätze und nachhaltige Buchproduktion – so will &Töchter den Zeitgeist treffen: „Der Zusatz hinter unserem Namen ‚Verlag und mehr‘ steht dafür, dass wir uns mit anderen Mitteln präsentieren. Zum Beispiel mit einem Podcast und einer Veranstaltungsreihe“, erklärt Straßl. Mit diesen Angeboten trifft &Töchter auf einen Markt, in dem es immer schwieriger wird, Leser:innen zu erreichen. Die Konsumgewohnheiten haben sich in den letzten Jahren grundlegend verändert: Ein riesiges Angebot an Inhalten auf vielen verschiedenen Plattformen sorgt dafür, dass die Aufmerksamkeitsspanne nachlässt. Medien werden oft nebenbei konsumiert. Doch Lesen erfordert Aufmerksamkeit; eine Fähigkeit, die man kaum noch mit Entspannung oder Freizeit in Verbindung bringt. Das ist laut einer Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung der häufigste Grund, warum Menschen immer seltener zum Buch greifen. „Dass Leser:innen verloren gehen, ist ein sehr präsentes Thema in der Verlagsbranche, schon seit zehn Jahren. Man muss da aufpassen, dass sich nicht ein Gefühl von ‚Wir gegen den Rest der Welt‘ im Literaturbetrieb einstellt“, meint Elena Straßl. BOOKSTAGRAM: AUS ANALOG WIRD DIGITAL Gleichzeitig herrscht in den sozialen Medien reges Treiben: Wo früher Buchblogger:innen dem Feuilleton die Rezensionen streitig machten, posten nun Bookstagrammer:innen unter den Hashtags #instabooks und #bookstagram. Die Buch-Community organisiert sich, tauscht sich über Neuerscheinungen aus oder hält Treffen von Online-Buchclubs ab. Genau in diesen Entwicklungen steckt für &Töchter großes Potenzial: „Für Verlage ist es am wichtigsten, sich zu öffnen und auch mit anderen Medienformaten zusammenzuarbeiten“, davon ist Lektorin Laura Nerbel überzeugt. „Diese gewisse Kulturhoheit, die einen vermeintlich von anderen Medien abgrenzt, ist Quatsch.“ 20

„Für Verlage ist es am wichtigsten, sich zu öffnen und auch mit anderen Medienformaten zusammenzuarbeiten.“ LAURA NERBEL Auf ihrem Instagram-Kanal @und.toechter legen die Verlegerinnen Wert auf Nahbarkeit und den persönlichen Austausch. Sie geben Einblick in ihren Arbeitsalltag, stellen Autor:innen vor oder organisieren Insta-Live-Talks mit anderen Literaturbegeisterten. „Als Verlag hat man endlich mal die Chance, durch Social Media die Endkund:innen und Leser:innen direkt anzusprechen. Sonst ist ja immer ein Buchladen dazwischengeschaltet”, so Lydia Hilebrand, PR- & Podcast-Beauftragte bei &Töchter. Neben der eigenen digitalen Präsenz setzt &Töchter auf gezieltes Influencer:innen-Marketing für seine Publikationen. Ihre Neuerscheinungen senden die Verlegerinnen an inhaltlich passende Bookstagrammer:innen, die die Bücher dann auf ihren Kanälen vorstellen und rezensieren. LYRIK IM BOXRING Bislang sind im &Töchter-Verlag erschienen: „Schwarz wird großgeschrieben“, hrsg. von Evein Obulor & Rosamag, „Great Green Thinking“ von Jennifer Hauwehde & Milena Zwerenz, „Glashauseffekt“ von Alexander Sperling und „About Shame“ von Laura Späth. Nicht nur digital ist &Töchter umtriebig, wenn es darum geht, Literatur erlebbar zu machen. Mit ihrer Veranstaltungsreihe „rauschen&Töchter“ stellen die fünf Frauen Literatur-Events auf die Beine, die nur noch wenig mit der klassischen Wasserglas-Lesung zu tun haben – und erreichen so völlig neue Zielgruppen: „Eine unserer ersten Veranstaltungen fand in einem Boxstudio in München statt, mit über 90 Zuhörer:innen. Für eine Lesung mit hauptsächlich unbekannten Autor:innen ist das absolut nicht selbstverständlich. Auch das Team und die Mitglieder des Boxstudios waren dabei, alle im Trainingsanzug. Die saßen ganz ruhig da und haben den Lesungen zugehört. Das war für uns ein bestätigender Moment, dass unser Konzept funktioniert“, erzählt Lydia Hilebrand stolz. &Töchter-Lektorin Laura Nerbel liest Buchmanuskripte zwar noch in ausgedruckter Form. Sonst beinhaltet das Arbeiten im Verlag aber nur mehr wenige analoge Momente.