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SeeMagazin 2012

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Im SeeMagazin berichten wir einmal jährlich von besonderen Menschen und Orten aus dem Fünf-Seen-Land. Ein Projekt, das uns schon fast 10 Jahre begleitet und immer wieder begeistert.

AUTOREN ExTRA /

AUTOREN ExTRA / Jubiläum Ono Mothwurf Milcheis Als er aufwachte, wusste er nicht, dass der kälteste Tag des Jahres angebrochen war. Ihn fröstelte. Er wusste auch nicht, dass er noch genau 15 Stunden und ein paar Minuten zu leben hatte. Gut, es war schon gestern kalt gewesen, unter minus 10 Grad, aber diesen Tag hatte er ja nun erwiesenermaßen überlebt. Also heute. der See lag unter einem Eisdeckel begraben, der von den Rändern her immer dicker wurde. Föhn war keiner in Sicht. da lag der Gedanke natürlich nahe, dass es auch heute kalt werden könnte. Eiskalt. Und mit Eis kannte er sich aus. Er wusste alles über champagnersorbet, über Mango-chili-Eis und, so trivial es auch klingen mochte, über Erdbeereis. Aber nicht irgendein Erdbeereis, sondern das perfekte Bio-Erdbeereis, die Kugel für 1,90 Euro. Vom Feinschmecker-Magazin im letzten Frühjahr als bestes Erdbeereis deutschlands ausgezeichnet. Mit diesem Ereignis war sein Geschäft vom Steigflug in einen Raketenstart übergegangen. Alle wollten Erdbeereis haben, er kam mit dem Ausbau der Produktion kaum nach. Zwei perfekte Sommer, zweimal fünf heiße Badewochen im Juli und August taten ein Übriges, um ihn zu einem bekannten Mann zu machen. Zu einem reichen, bekannten Mann. das alles schien ihm Jahre her zu sein. der Sommer war weg. das Hochgefühl auch. Stattdessen fror der See zu. Alle 40 Jahre passierte das. Zuletzt bei seiner Geburt. Er nahm einen Schluck aus dem Kaffeebecher und ließ den Blick über die Seeshaupter Bucht gleiten. Es war nicht mehr auszumachen, wo das Land aufhörte und das gefrorene Wasser anfing. Eine durchgehende, weiße Fläche. Und darüber ein bleigrauer Himmel. 32 SeeMagazin 2012 | www.seemagazin.de

Im Sommer konnte er den See überhaupt nicht sehen, sein Haus hatte keinen Seeblick, nicht einmal Teilseeblick, sondern nur Winterseeblick, wenn die bescheuerten Riesenbäume der Nachbarn endlich ihr Laub abgeworfen hatten. Aber er fühlte keinen Ärger auf seine Nachbarn. Was er fühlte, war Angst. Man hatte es entdeckt. Und bald würden es alle wissen. Wieder fröstelte ihn, er zog den Gürtel seines Bademantels enger, während er durch die Zweige auf den See starrte. Was war das für ein seltsames Licht, in St. Heinrich? dort drüben auf der Robinson-Insel? Ein roter, kleiner, heller Punkt leuchtete ihm von dort aus entgegen. Eis-Alex, wie man Alexander in Seeshaupt und dem ganzen Umland nannte, wandte den Kopf zur Seite und blickte auf die Wand hinter sich. Und auf einmal wusste er, was das für ein Punkt war. Reflexartig warf er sich auf den Boden. der rote Punkt blieb über ihm leicht zitternd an der Wand stehen. der rote Punkt eines Laser-Zielfernrohres. Alexander lag unter dem Fenster und dachte nach. Ausgeschlossen, dass jemand mit einem Gewehr quer über den See treffen würde. Zweieinhalb Kilometer, dafür braucht man schon einen Leopard-Panzer. So groß, dass deswegen ein Krieg angezettelt würde, war sein Geheimnis nun auch wieder nicht. Alexander beruhigte sich, der kurze Adrenalinschub hatte ihn erhitzt, jetzt spürte er die Kälte wieder, die durchs Fenster hereinströmte. Und er ärgerte sich über den verschütteten Kaffee, der seinen Bademantel bekleckert hatte. Er spähte über den Fensterrand, und da war es wieder. Ruhig und unverwandt leuchtete es rot zu ihm herüber. Eine Einladung mit einem Jagdgewehr, um eine alte Feindschaft aufzuwärmen? Von Johann? Seit acht Jahren hatte er nichts mehr von ihm gehört. Es war ein heißer Freitagnachmittag gewesen, damals, und die Münchener waren wie immer an das Ostufer des Sees geströmt, wo sie an den wilden Badeplätzen ihre Handtücher und ihre blassen Bürokörper ausgebreitet hatten. Nur die wenigsten hatten Verpflegung dabei. Alexander hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, warum das so war. Waren die Münchener so spontan? Oder so unorganisiert? Zu einem richtig schönen Badeausflug gehörte doch eine richtig schöne Brotzeit. das wusste Alexander, seit er sechs war und mit seinen Eltern am alten AdAc-Badeplatz in St. Heinrich die Wochenenden eingeläutet hatte. Jeden schönen Freitag im Sommer waren sie da gewesen. Mit Stolz hatte er die neidischen Blicke registriert, als seine Mutter den Korb mit dem Abendessen ausgepackt und auf einer decke ausgebreitet hatte, wo sie dann im Sonnenuntergang tafelten, und schwammen und tafelten und schwammen, bis Alexander die Augen zufielen. Er hatte das nie vergessen. Und als Student ein gutes Geschäft draus gemacht. Alexander organisierte sich beim Simmerding in Leoni einen alten Fischerkahn, pflanzte ihm einen Elektromotor, eine Stereoanlage, einen großen bunten Almdudler-Sonnenschirm, eine Schiffsglocke und zehn Eisboxen ein, und klapperte als Fast-Food-Gondoliere alle Badeplätze von Seeshaupt bis Kempfenhausen ab. das Boot war so flach gebaut, dass er damit direkt ans Ufer fahren konnte, und so auch die für die Eiswägelchen unzugänglichsten Buchten erreichte. Sandwiches, Almdudler, Bier und Eis standen auf dem Johann stöhnte: »Ach Weiber! Kein Bikini dabei, kein Badetuch, keine Liegedecke …« Programm. Um 7 Uhr abends war er bereits ausverkauft, an besonders schönen Tagen um sechs. dann füllte er die Kühlboxen noch einmal am alten Kiosk auf der Robinson-Insel auf, wo er sein Basislager hatte, um ein zweites Mal rauszufahren. An diesem Freitagnachmittag war Sylvia da. Sie stand mit ihren hochgekrempelten weißen, weiten Hosen und ihrem weißen Spaghettiträger-Top im flachen Wasser, um sich abzukühlen. Missmutig stapfte sie im Schlamm herum, schaukelte von links nach rechts, verlagerte das Gewicht vom linken auf den rechte Fuß, eigentlich fand sie den kalten Schlamm zwischen ihren Zehen eklig. Aber zurück ans Ufer wollte sie auch nicht, da stand Johann. das Ufer vor der Robinson-Insel, wie die Einheimischen die kleine Halbinsel getauft hatten, fiel so flach ab, dass man auch 50 Meter weiter draußen noch stehen konnte und den Grund unter den Füßen spürte. da stand sie nun, wie ein viel zu junger, viel zu hübscher Kurgast im Kneippbecken. Alexander sah sie schon von Weitem, als er aufs Ufer zu fuhr. Als weiße Gestalt auf spiegelnder Fläche hob sie sich vor dem dunklen, grünen Uferwäldchen gut ab. »Hallo, Fräulein Jesus, klappt’s heute nicht mit dem Überswasserlaufen?«, flachste Alexander sie im Vorbeifahren an. »Nicht so gut wie bei dir!«, gab sie nur matt zurück. Er kannte Sylvia vom Sehen, Johanns Eltern hatten den Kiosk auf der Robinson- Insel gepachtet. Alexander roch den Pulverdampf nach der Schlacht, der zwischen Johann und Sylvia in der Luft lag, als er die leeren Kühlboxen wieder auffüllte. Johann stand muffelig im Halbschatten der alten Eichen herum. »Was ist denn mit Euch los?«, fragte Alexander leichthin, während er die frischen Kühlakkus über seiner Ladung verteilte. Johann stöhnte: »Ach Weiber! Kein Bikini dabei, kein Badetuch, keine Liegedecke …« »… kein Picknickkorb, kein Prosecco, keine Musik«, ergänzte Alex. »du bist ein Anfänger, Hansl. Aber du lernst es schon noch. Servus, ich muss weiter!« Und sprang vom Ufer auf den Bug des langen Bootes, um zum Heck hin zu laufen. Mit einem leichten Ruck löste es sich vom Kiesufer und trieb rückwärts auf den See hinaus. Auf die Stelle zu, an der Sylvia stand. Er bückte sich. Nicht, um den Motor anzuschalten, sondern um die Sitzbank zu öffnen, unter der sich ein kleiner Stauraum verbarg. daraus holte er ein blauweiß gestreiftes Handtuch hervor und reichte es Sylvia. Sie schien kein bisschen überrascht zu sein. Anstatt das Handtuch zu nehmen, ergriff sie die Hand, die das Tuch hielt, und ließ sich aufs Boot ziehen. So leicht war das gewesen. So hatte es Alexander jedenfalls in Erinnerung. Johann hatte es naturgemäß ganz anders gesehen. Soweit man im Gegenlicht einer untergehenden Sonne, die den ganzen See in Brand setzt, überhaupt etwas erkennen kann. In seinen Augen hatte Alex ewig lange mit Sylvia geflirtet, bis er sie endlich dazu überredet hatte, auf eine kleine Fahrt mitzukommen. Aus der dann eine größere Fahrt wurde. Inklusive drei amouröser Zwischenstopps. Und die deshalb erst kurz nach halb zwölf endete. www.seemagazin.de | SeeMagazin 2012 33