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NewHealthGuide 02/2022

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Kann eine Maschine den

Kann eine Maschine den Arzt vertreten? Aber ja! Klug eingesetzt, verbessert sie die Versorgung der Patienten sogar erheblich Text Hendrik Bensch ROBOTER Wenn Dr. Björn Weiß auf Visite ist, bewegt er sich manchmal keinen Zentimeter vom Fleck – und rollt doch im selben Moment von einem Patientenzimmer zum nächsten. Obwohl er kilometerweit von den Patientinnen und Patienten entfernt ist, kann er sich den Beatmungsmonitor oder die Pupillen aus der Nähe anschauen. Möglich ist das dank eines Visitenroboters, der ein bisschen an eine Zahnbürste erinnert. Oben ist – wie ein Kopf – ein Monitor angebracht, auf dem das Gesicht von Björn Weiß zu sehen ist. Per Lautsprecher ist seine Stimme zu hören, per drehbarer Kamera kann er sich umschauen, per Mikrofon zuhören. Der stellvertretende Direktor der Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin der Charité Universitätsmedizin Berlin begleitet die Visite in einer anderen Klinik, ohne vor Ort sein zu müssen. Seit 2018 ist er oder ein anderer Facharzt oder eine andere Fachärztin für Anästhesiologie mit Zusatzbezeichnung Intensivmedizin in anderen Kliniken per Roboter dabei, meistens auch eine Fachpflegekraft. Ausgangspunkt war das Projekt ERIC (Enhanced Recovery after Intensive Care), das der Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gefördert hat. Das Ziel: mithilfe einer multiprofessionellen telemedizinischen Visite die Einhaltung von Qualitätsindikatoren in der Intensiv medizin zu stärken – und so das Risiko für Folgeschäden zu verringern. Dazu tauschten sich Ärztinnen, Ärzte und Fachpflegekräfte der Charité mit Kollegen von 15 Intensivstationen aus Berliner und Bran- Mediziner am Monitor Fremdeln die Patienten mit dem seltsamen Gegenüber? „Kaum“, sagt Oberarzt Hans-Joachim Janssen AM 20

newhealth.guide #2 FOTOS: CHARITÉ/WIEBKE PEITZ, PRIVAT, BG KLINIKUM UNFALLKRANKENHAUS BERLIN denburger Kliniken aus. „Das hat Patienten auch in kleineren Krankenhäusern den Zugang zur Maximalversorgung ermöglicht“, sagt ERIC-Projektkoordinator Weiß. Bei der Televisite besprachen die Ärztinnen und Ärzte zum Beispiel, wie sich Sedierung und Beatmung, Antibiotikatherapie oder Beatmungsentwöhnung bestmöglich umsetzen ließen. Unter den Fachpflegekräften waren etwa Wundversorgung und Lagerung oder Ernährungsmanagement Gesprächsthemen. Wenn Björn Weiß Kolleginnen oder Kollegen, die nicht am Projekt beteiligt waren, von dem Visitenroboter erzählt, sind diese häufig skeptisch. „Ist das nicht nur ein teures Spielzeug?“, bekommt er zu hören. „Reicht ein Austausch per Telefon oder Videokonferenz nicht aus?“ Björn Weiß sieht das anders: „Es macht einen riesigen Unterschied, ob ich quasi am Bett stehe und mit dem Patienten und Arzt interagiere oder die Informationen nur telefonisch bekomme oder den Akten entnehme.“ Per Telefon kann er sich vieles nur schildern lassen. Per Kamera hingegen kann sich der Intensivmediziner PATIENTEN- BETT selbst ein Bild machen: zum Beispiel davon, ob sich der Thorax überall gleichzeitig hebt oder wie tief der Endotrachealtubus in der Luftröhre steckt. „Ich kann dadurch schnell und gezielt die Dinge sehen, die ich sehen will.“ Auch Hans-Joachim Janssen sieht Vorteile gegenüber dem Telefonkontakt. Janssen ist Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv- und Schmerzmedizin am BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin. Er und seine Kolleginnen und Kollegen haben auch nach Abschluss des ERIC-Projekts Ende 2020 in einem Folgeprojekt während der Coronapandemie eng mit den Charité- Kollegen zusammengearbeitet. „Durch die Televisite ließ sich vieles leichter erklären“, sagt Janssen. Zum Beispiel, indem er den Kollegen CT-Bilder oder Beatmungseinstellungen zeigen konnte. Auch das gemeinsame Gespräch mit den Patienten habe es erleichtert. „Die meisten haben kein bisschen damit gefremdelt, mit Dr. Björn Weiß Stellvertretender Direktor für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin der Charité Universitätsmedizin Berlin Hans-Joachim Janssen Oberarzt für Anästhesiologie, Intensiv- und Schmerzmedizin am BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin einem Arzt am Bildschirm zu sprechen“, sagt Janssen. Von dem Austausch hätten insbesondere während der Coronapandemie sowohl die Kollegen von den BG Kliniken als auch die von der Charité profitiert. Gemeinsam haben sie sich zu Therapie-Schemata besprochen und beraten – beispielsweise dazu, wie man die Lagerungstherapie oder die ECMO-Therapie umsetzen sollte. „Der Wissensgewinn war immens, weil man sich auf kurzem Weg austauschen konnte“, sagt Janssen. Auch die Angehörigen der Patienten profitierten, so Björn Weiß. Denn selbst wenn man den Ärzten einer Klinik vertraue: Verunsicherte Angehörige freuten sich fast immer, eine Zweitmeinung vor Ort zu bekommen. „Das hat viele sehr beruhigt“, sagt der Intensivmediziner der Charité. ERIC ist inzwischen evaluiert worden – und hat positiv abgeschnitten. Die telemedizinische Visite habe dazu geführt, dass es bei fast allen Qualitätsindikatoren „deutliche und signifikante Verbesserungen im Erfüllungsgrad“ gegeben habe, heißt es im Evaluationsbericht. Zudem zeigte sich mehrere Monate nach der Entlassung von der Intensivstation: Trotz der erheblich höheren Krankheitsschwere in der Interventionsgruppe gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen Kontroll- und Interventionspatienten, zum Beispiel bei der Mobilität und Mortalität. Dies könne ein Indiz dafür sein, dass die Telemedizin-basierte Intervention auch einen günstigen Effekt auf „funktionelle Beeinträchtigungen und Mortalität über die Entlassung aus der Intensivstation hinaus hat“. Anfang des Jahres hat der Innovationsausschuss des G-BA das ERIC-Projekt für die flächendeckende Versorgung empfohlen. Die Gesundheitsministerien der Länder prüfen nun, ob in ihrem Bundesland telemedizinische Visiten auf Intensivstationen etabliert werden sollten. 21