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Jaguar Magazine 03/2017 – German

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Wir geben Gas! In London sorgt Automobiljournalist Guy Bird im brandneuen E-PACE für Aufsehen und zeigt uns ganz nebenbei nahezu unentdeckte Tipps in der britischem Hauptstadt – seiner Heimat. Warum sich der Jaguar XE bestens als Grundlage für den leistungsstärksten Jaguar mit Straßenzulassung aller Zeiten – den XE SV Project 8 – geeignet hat, hat uns David Pook erklärt, Leiter der Special Vehicle Operations bei Jaguar Land Rover. Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe THE JAGUAR 03. 

ONE LINE ART Fünf

ONE LINE ART Fünf Hände, laut dem Pariser Künstlerduo Differantly (DTF) gezeichnet, ohne den Stift auch nur einen Moment abzusetzen. Rechts: Mo Ganji entwirft ein neues Design Wenn Emma und Stephane zum Stift greifen, fahren alle Augen Achterbahn. Linien verwandeln sich in Schleifen, drehen und wenden sich auf dem Papier, bilden steile Kurven und scharfe Kanten. Innerhalb von Sekunden lassen sie Rennautos, Kultsneakers oder Parfümflaschen entstehen, ohne einmal den Stift abzu setzen. Beide Mitglieder des Pariser Künstlerduos „Differantly“ (DFT) haben sich auf „One Line Art“ spezialisiert und sind unter den prominentesten Vertretern dieser Kunstform. Ihre Einlinienzeichnungen sind mittlerweile gesuchte Sammler stücke, und unter ihren Kunden finden sich bekannte internationale Namen. Sehr wenigen Menschen ist bewusst, dass diese scheinbar spielerische Technik eigentlich Teil eines komplizierten Prozesses ist. Stephane sagt: „Das Zeichnen selbst ist nur die Spitze des Eisbergs. Zuerst studieren wir ein Objekt genau, erfassen sein Wesen und zeichnen es aus unterschiedlichen Blick winkeln. Dann spulen wir zurück. Ein Turnschuh oder eine Hand tasche werden dekonstruiert und letztlich auf ein Minimum reduziert.“ Schraffierung, Schattierung und Farben sind völlig irrelevant. Nur die durchgezogene Linie zählt. Sie regt den Betrachter an, ihren Anfang und ihr Ende zu suchen. Man begreift schnell, dass One Line Art eine ganze Menge Fähigkeiten erfordert, zum Beispiel höchste Konzentration und ein präzises Vorstellungsvermögen, gar nicht zu reden von Ausdauer. Den Stift nicht vom Papier zu lösen, erfordert auch den Mut, unwiderrufliche Entscheidungen zu treffen und komplexe Sachverhalte radikal auf das Wesentliche zu reduzieren. Sogar der berühmteste Vertreter der One Line Art, Pablo Picasso, machte diesen Prozess durch. Seine „Stier“-Serie, elf Lithographien aus den Jahren 1945/46, beginnt mit einer realistischen Darstellung des Tiers, dann folgt eine kubistische Variante, bis es am Ende nur noch aus abstrakten Linien besteht. Der spanische Meister, der von den präzisen Umrissen von Höhlenzeichnungen inspiriert wurde, hatte ein unübertroffenes Talent dafür, mit wenigen, aber umso genaueren Tuschelinien die Charakteristika von Tieren, Tänzern und Musikern herauszuarbeiten. Während Alexander Calder ab 1926 Einlinienzeichnungen in Drahtskulpturen übertrug, zum Beispiel mit seinem Drahtportrait des Malers Fernand Léger, experimentierten einige große Zeichner ebenfalls mit Einlinienbildern: Paul Klees Werk „Kleiner Narr in Trance“ (1927) ist die berühmteste Einlinienmonotypie. „Der Mann mit dem Mundwerk“ und „Was fehlt ihm?“ (beide 1930) entstanden aus durchgezogenen Linien mit Stift und Aquarellpinsel auf dem Papier. „MAN WIRD STÄNDIG GEZWUNGEN, KALTHERZIGE ENTSCHEIDUNGEN ZU TREFFEN“ Saul Steinberg erzielte mit seinen Linien eine ätzendere, prononcierte Wirkung. Der berühmte rumänisch-amerikanische Zeichner versuchte im Jahr 1941, mit einem gefälschten Pass in die USA zu emigrieren. Während seines Zwischenaufenthalts in der Dominikanischen Republik sandte er The New Yorker Cartoons. Seine Flucht bildete er in seinem Einlinienporträt „The Passport“ (1948) ab. Im selben Jahr schuf er sein berühmtestes Einlinienwerk ohne Titel, das einen Mann zeigt, der einen Kreis um sich selbst zieht. Eine weitere Figur, die nur mit einer Linie gezeichnet wurde, war „La Linea“, ein Miesepeter aus der gleichnamigen Kult- Comicserie aus den Siebzigerjahren, kreiert von dem Mailänder Cartoonisten Osvaldo Cavandoli. Das kleine Strichmännchen schimpft und zetert wild gestikulierend entlang einer Linie, die ihm ständig neue Hindernisse in den Weg stellt. Bis heute fasziniert die Herausforderung, ausdrucksstarke Formen nur aus wenigen Linien entstehen zu lassen, kreative Köpfe aus ganz unterschiedlichen Bereichen: 72 THE JAGUAR

HÜTER DER LINIEN IAN CALLUM, JAGUAR DESIGNDIREKTOR, ÜBER DEN NUTZEN DER SPONTANEN SKIZZE FOTOS: DFT ONE LINE ART, KEREM BAKIR, TRENT MCMINN Der Tattoo-Künstler Mo Ganji hat mit seinen „Single Line Tattoos“ in seinem Berliner Studio eine Nische erobert. Der deutsch-iranische Künstler zeichnet elegante Bilder wie etwa Gebirgspanoramen aus feinen Tuschelinien. Für ihn symbo lisieren sie „den Kreislauf von Energien, Kontinuität und Lebenskraft“. Bei der One Line Art markieren die Linien aber nicht nur Formen, sie sind auch Teil des Bildes: Der Grafiker Chan Hwee Chong aus Singapur schuf Leonardo da Vincis „Mona Lisa“ und Jan Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrring“ aus einer einzigen spiralförmigen Linie. Die Kreis bewe gung ist manchmal höher, manchmal flacher, und der Tuschestift wird manchmal leicht, manchmal fester aufgedrückt, so dass Nase, Mund und Augen drei dimensional wirken. Diese Kunstform verleitet zu der Annahme, die Bilder entstünden spontan, aber in Wirklichkeit sind sie das Resultat penibler Vorarbeit. Fehler werden nicht verziehen und jeder, der sich der Herausforderung stellt, kann sich der Aufmerksamkeit des Zuschauers sicher sein. „One Line Art ist im Prinzip ein schmerzhafter Prozess“, erklärt Stephane von Differantly. „Die Vielfalt und der Minimalismus sind faszinierend, doch es ist sehr mühsam, denn man wird ständig gezwungen, kaltherzige Entscheidungen zu treffen und das Überflüssige zu verwerfen aber das ist es auf jeden Fall wert!“ „Am liebsten demonstriere ich meine anfänglichen Ideen mit raschen Skizzen. Sie vermitteln viel genauer als Wörter, welches Bild ich im Kopf habe. Wenn es gut funktioniert, steuert der Denkprozess die Linien, und die Zeichnung entsteht automatisch, als würde man eine vertraute Sprache sprechen. Oft entstehen völlig neue Design-Ideen ganz zufällig auf dem Papier. Wie bei der One Line Art sind Linien der beste Weg, das Wesen und den spezifischen Charakter eines Autos zu beschreiben. Man sollte die Grundzüge jedes schönen Autos mit drei, vier Linien zeichnen können. Bei Sportwagen wie dem F-TYPE sind die horizontalen, bewegten Linien das Wichtigste, genau wie ihr Verhältnis zur Grundlinie. Die Seitenlinien setzen Akzente und stehen für Dynamik und Qualität. SUVs wie der neue, kompakte E-PACE haben eine völlig andere Geometrie: Die Linien sind höher, gerundeter und über den Reifen und dem Dach absichtlich übertrieben. Die leichte Kante über den Reifen vermittelt Vertrauen. Die Silhouette ist klar und doch dramatisch. Wir haben die Linien für das I-PACE Concept, dem ersten rein elektrisch angetriebenen Jaguar, für die Markteinführung 2018 völlig neu designt. Optisch liegt das Gewicht im vorderen Bereich: Es sieht aus, als würde die Front nach vorne gestreckt, während das Heck sich zurücknimmt. Es wirkt ziemlich dramatisch, als würde der Wagen sofort abziehen. Diese Idee entstand lange vor dem Rendering und den 3D-Modellen auf einem Blatt Papier. Von Hand gezogene Linien und das Zusammenwirken von Stift und Papier sind deshalb wesentlich für den Gestaltungsprozess. Meine Aufgabe besteht darin, diesen ersten großen Schritt zu bewahren.“ THE JAGUAR 73