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Focus Style – Oktober 2018

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Das Ziel von FOCUS STYLE: authentisch und nah am echten Menschen zu sein. Dafür sorgt ein Mix aus unterschiedlichen Lifestyle-Themen, wie Fashion, Reise oder Food. Auch die vierte Ausgabe mit Titelstar Friedrich Mücke zeigt sich kosmopolitisch und bietet angesagte und informative Lifestyle-Themen.

16 FOCUS STYLE WAS IST

16 FOCUS STYLE WAS IST EIGENTLICH MINDFULNESS ?

GUIDE HOW TO Achtsamkeit, Baby! Was früher nur im Straßenverkehr galt, ist jetzt die Norm für das ganze Leben: Achtsamkeit ist der hot shit. Muss man dem Trend folgen? Fragt sich unser Autor TEXT GORDON DETELS ILLUSTRATION PAULINE SCHLEIMER A Achtung Baby, hieß Anfang der 90er Jahre das siebte und sehr erfolgreiche Studioalbum der irischen Band U2. „Achtung, Achtsamkeit Baby!“ möchte man als Warnung vor Buchhandlungen allen Menschen zurufen, die immer noch so durchs Leben gehen wie es einst normal war: nicht immer ganz bei der Sache, mal vergesslich, neidisch auf den Kollegen mit mehr Gehalt und Ansehen. Mal hektisch, schlecht gelaunt gestresst. Man könnte es auch so nennen: menschlich. Menschlich geht leider nicht mehr: Wer heute beim Betreten einer Buchhandlung nicht ganz bei der Sache ist läuft Gefahr sich zu verletzen und in einen großen Stapel mit Achtsamkeitsratgebern zu laufen, der mit Sicherheit im Eingangsbereich steht. Nach Yoga, Meditation, gesunder Ernährung, Nachhaltigkeit und Co. ist Achtsamkeit die neueste geistige Wellness-Sau, die immer schneller wachsend durchs Dorf getrieben wird. Dabei geht es bei dem vermeintlich neuen Trend und seinen x Ratgebern in analoger oder digitaler Form (einfach mal im App Store Achtsamkeit eingeben) um etwas ganz Altes: Um das Abschalten, zur Ruhe kommen, um das Genießen des Moments. Carpe Diem sagte man 23 vor Christus dazu. Es geht der Definition nach darum aufmerksam zu sein, absichtsvoll zu handeln, sich auf den Moment zu beziehen und nicht wertend zu sein. Was gut ist. Aber wofür früher das Rumlümmeln auf der Couch oder die bewusst reizarm-entspannende Urlaubsreise reichte muss nun mehr getan werden. Wer achtsam ist duscht nicht nur, er zählt dabei Wassertropfen und spürt den Schaum auf der Haut. Er isst nicht nur sondern schaut sich erst den gefüllten Löffel an, nimmt ihn bewusst wahr, riecht und schmeckt erst dann den (vermutlich jetzt kalten) Aromen nach. Wer achtsam ist legt sich ein Mal am Tag auf den Rücken, atmet tief ein und spürt den Atem im rechten Zeh. Er oder sie schließt im Geschäft vor dem Kleiderständer die Augen und entscheidet sich achtsam-nachhaltig gegen den Kauf eines neuen T-Shirts. Achtsamkeit geht in jedem Moment wie es der Autor David Gelles von der New York Times in seiner Kolumne Meditation for Real Life auf die Spitze treibt (Leider ist er kein Comedian, leider meint er es ernst.) Bei ihm kann man mindfull kein Trend ohne englisches Buzz Word heiraten, umziehen, krank sein, laufen, grillen oder ein Feuerwerk anschauen (nytimes.com/meditation-for-real-life). Sollten Sie also demnächst in der U-Bahn wen sehen, der auf sie wie ein geisteskranker, potentieller Amokläufer wirkt, hat er oder sie nur diesen Rat von Gelles befolgt: „Atmen Sie ein paar Mal tief ein, ziehen Sie ihre Lippen zu einem halben Lächeln hoch, schauen Sie freundlich eine andere Person im Waggon an, nehmen Sie die Gedanken oder Gefühle war die ihnen beim Anschauen der Person kommen. Seien Sie sanft, stellen Sie sich vor, diese Person sei ihr Freund.“ Und sollte ihr Kollege im Büro demnächst in glazialer Geschwindigkeit arbeiten: Dann ist er achtsam. Denn Multitasking ist verpönt, immer schön im Moment leben, nicht nach vorne schauen, bitte stets eins nach dem anderen erledigen: Monotasking. Einen „Gegentrend zur Erregungskultur“ nennt Matthias Horx vom Frankfurter Zukunftsinstitut das. „MBSR“ murmelt der Coach vor sich hin. Wie bitte? Mindfulness-based stress reduction verbirgt sich hinter dieser Abkürzung, unter der weltweit Kurse abgehalten werden. Denn darum geht es bei der Achtsamkeit in Wirklichkeit: um Konsum. Man soll Seminare buchen, Mandala-Bücher kaufen und ausmalen, vegane Kondome der Firma Einhorn aus Berlin kaufen (bitte achtsam beim Sex sein!) und am besten noch die Gift und kinderarbeitfreie Karma Bag (von karma-classics.de) kaufen damit die Achtsamkeitsindustrie verdient. Die natürlich Argumente für ihre Produkte hat. Sie ahnen es: „US-Forscher haben herausgefunden…“ Zum Beispiel, dass achtsame Menschen bessere Blutzuckerwerte haben, ein stärkeres Immunsystem und seltener Rückenschmerzen. Ach(tsam). Zum Glück melden sich erste Kritiker zur Mindfulness-Bewegung zu Wort. McDonaldisierung nennen diese sie. Sie monieren, dass aus 2500 Jahre alten buddhistischen Meditationspraktiken das große Geschäft gemacht wird dass nur für die Anbieter, die achtsam auf ihren Umsatz achten, nachhaltig ist. Abseits davon übersehen allzu Achtsame eine grundlegende Sache: Ein Leben, dass normativ auf lauwarm temperiert wird mag vernünftig aber nicht lustig sein. Und: Gute Ideen kommen einem in der Regel dann wenn man unvernünftig ist, der Kopf auch mal sinnlos herumwandern kann statt sich nur mit dem Jetzt zu beschäftigten. „Alles was ist dauert drei Sekunden. Eine für vorher, eine für nachher, eine für mittendrin“, singt Peter Licht. Damit redet er aber nicht dem Trend das Wort sondern der sinnvollen Sinnlosigkeit, dem Konfusen vor allem wenn er ein paar Zeilen später mal auf dem Sonnendeck, dann im Solarium oder am Radar ist. Wer achtsam permanent in sich reinhorcht, -fühlt und -spürt mag ganz doll im Hier und Jetzt sein. Kommt aber auch nicht vom Fleck. In dem erwähnten Konzeptalbum von U2 geht es übrigens um den Verlauf einer zerbrochenen Beziehung. Der Euphorie am Anfang folgen Vorwürfe und ein Zerwürfnis, am Ende steht die Depression. Also: Achtung, Achtsamkeit Baby. P.S: Sie haben gerade ganz trendbewusst minutenlang eine Achtsamkeitsübung gemacht: Beim Lesen fokussiert man sich nur auf den Moment und ist bei sich. Sehen Sie, geht auch alles ganz ohne Apps, Bücher, Kurse und Einhornkondome. Gordon Detels, 40, war fünf Jahre Redaktionsleiter des Stil-Magazins „GQ Style“. FOCUS STYLE 17